Ich hoffe ich kann dir, liebem Leser, lieber Leserin, ein wenig das ursprüngliche Gesicht Kretas zeigen...

 

 

INHALT

       

Eine große Liebe

  Wie Löwen    

Die zwei Schlüssel zum Paradies   

  Ikarus      

Kybele und der Mandelbaum      

Atme    

Die Nachtwächterin   

Lovers of faith    

Amor und Psyche   

   Leben auf Kreta      

 

 

Ikarus

 

Halis Elternhaus war schneeweiß gestrichen und hatte türkisfarbene Fensterläden. Eine alte Frau erzählte mir eines Tages, dass das Türkis den bösen Blick vertreiben würde. Die Kreter konnten sehr abergläubig sein und viele glaubten an den bösen Blick. Eleftheria, Halis jüngere Schwester, berichtete mir, dass ihr ältester Sohn eines Tages mittags nach Hause kam und plötzlich krank gewesen sei. Sie vermutete sofort, dass jemand ihm einen bösen Blick zuwarf. Derjenige, mit dem bösen Blick, schickte dabei einem anderen Menschen, durch einen tiefen Blick in seine Augen, negative Energie und konnte damit seinem Opfer ernsthaften, mitunter lebensbedrohlichen, Schaden zufügen. Eleftheria rief ihre Großmutter zu sich. Diese begriff den Ernst der Lage auf Anhieb, eilte sofort herbei und verschwand mit dem Kind in einem verdunkelten Zimmer. Dort setzte sie sich dem Jungen gegenüber, sah ihm in die Augen und betete für ihn. Schließlich schüttelte sie sich furchtbar, bevor sie zwei Stunden ruhte. Der böse Blick wich von dem Jungen, er war plötzlich wieder gesund. Neben der Anwendung von Türkis zur Abwendung böser Blicke las ich einmal, dass Insekten Türkis nicht sehen können. Der Anstrich war also eine wirksame Maßnahme, um sie vom Eindringen durch Fenster und Türe abzuhalten. Ich fragte mich, ob Hali und ich auch von einem bösen Blick getroffen wurden, doch konnte ich mich daran nicht erinnern. 

....  

Ganz Chania schien von ehemaligen Gefängnissen umzingelt zu sein. Sie alle waren Teil der historischen Vergangenheit Kretas. Nicht unweit des venezianischen Hafens in Chania liegen die venezianischen Arsenale, große Steinhallen mit Gewölben. Das Fort Firkas war eine Wehrmaßnahme der Venezianer - gegen die Genuesen, die Rückeroberungsversuche von Byzanz, die Angriffe des Osmanischen Reiches und gegen die aufständische, kretische Bevölkerung. Anfangs diente es als Kaserne und Unterbringungsgelegenheit, später wurde es zum Gefängnis. Im Weiteren nutzten es die Kreter selbst zeitweise als Militärgefängnis. Östlich von Chania liegt der Fährhafen, der eigentliche Hafen Chanias, in Souda. Am Rande des Hochplateaus über der Soudabucht befinden sich die Festung Koule und die Burg Izzedine, welche unter den Türken als Gefängnis für politische Gefangene diente. Und auf dem Weg von Chania zur Samariaschlucht gelangt man, nach einer kurzen Fahrt durch idyllische Orangenhaine, zu dem Gefängnis Agia. An der Orteinfahrt liegt das ehemalige Internierungslager der Deutschen Wehrmacht für Widerstandskämpfer, deren Angehörige und die Angehörigen der jüdischen Gemeinde. Zuvor und auch danach war dies das kretische Gefängnis.

 

Wie jeden Sonntagmittag traf sich die Familie bei Halis Eltern, Eftychia und Michalis. Dazu gehörten noch Eleftheria, Vassilios, ihr Mann und deren vier Kinder. Erst anlässlich Halis Aufzählung der Gefängnisse um Chania erfuhr ich, dass auch deutsche Nationalsozialisten in Preveli, Arkadi, Anogia und vielen weiteren Orten gewütet hatten.

In der Hoffnung nicht in ein schlimmes Fettnäpfchen zu treten, fragte ich Michalis nach dem Essen: „Was haben die Deutschen damals auf Kreta angerichtet?“

Eine Sekunde lang hielten alle Erwachsenen im Raum, außer mir und Hali, kurz den Atem an.

„Nun!“, sagte Michalis freundlich: „Das Unternehmen Merkur war bis dahin die größte Luftlandeoperation der Geschichte. Hunderte von deutschen Bombern bombardierten kretische Städte. Besonders hier in Chania wurde fast die ganze Altstadt zerstört.

Hali fahr einmal mit Linda Richtung Kissamos und zeig ihr den Sockel des alten Fallschirmjägerdenkmals. Wir nennen es nur „Der böse Vogel“.“, wandte er sich Hali zu.

Eftychia verdrehte die Augen. Sie wusste nicht mehr zum wievielten Male Michalis das Denkmal erwähnte. Zur Zeit der griechischen Diktatur, unter General Metaxas, waren Michalis und Eftychia junge Erwachsene.

„Nach zehn Tagen war Kreta erobert und Italiener, Deutsche und Bulgaren errichteten ein Besatzungsregime.“, fuhr er fort.

„Es gab unzählige Kämpfe der kretischen Partisanen gegen die Nationalsozialisten und tausende kretische Männer, Frauen und Kinder wurden in Vergeltungsaktionen hingerichtet.“

Michalis schwieg und starrte vor sich hin. Dann lächelte er mich freundlich an.

„Nach dem zweiten Weltkrieg ging der Kampf in einen Bürgerkrieg zwischen Regierung, Alliierten und kretischen Sozialisten und Kommunisten über. Stalin hat uns verraten! Danach ergriff das Militärregime die Macht. Der Kampf dauerte bis 1974. “, fügte er noch hinzu.

Alle außer Eftychia hatten Michalis andächtig zugehört.

Durch meinen Kopf schossen Gedanken wie Blitze. Über Jahrhunderte hinweg war Kreta nichts als ein Spielball in den Händen fremder Großmächte. Ich bewunderte Michalis Güte. Für ihn schien jeder Krieg nichts als ein weiterer Schrecken, ein weiteres Zeugnis der Unmenschlichkeit zu sein. Er hackte nicht auf den Deutschen rum. Er hatte lediglich ihre Taten, als einen Teil der Geschichte, beschrieben. Überhaupt war ich während meines gesamten Aufenthalts auf Kreta noch nie mit Feindlichkeit gegenüber Deutschen konfrontiert worden.

Michalis, der Kommunist war, sagte mir später einmal, dass auch die Kommunisten sich an der Menschheit schuldig gemacht hätten. Den Glauben an die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung, die von Gerechtigkeit und Liebe geprägt war, wollte er dennoch ganz einfach nicht aufgeben. Er glaubte an seine Ideale und vertraute in sie, wie ein kleines Kind einer liebevollen Mutter. Trotz all seiner leidvollen Erfahrungen, war sein Wille ungebrochen. Vielleicht war es genau dies was ihm, der klein und knochig war, sein großes Charisma verlieh. Aus seinen alten Gesichtszügen und lachenden, schwarzen Augen strahlten Ruhe und Kraft. Ich verstand nun noch besser warum Hali, Sohn einer streng orthodoxen Familie, Pazifist wurde und jegliche Form von Gewalt ablehnte.

Warum bist du immer noch Kommunist?“, platzte es aus Vassilios heraus, welcher schon das ganze Gespräch über unter einer Art innerlichem Druck litt, ob Michalis Angehörigkeit zur kommunistischen Partei. Vassilios war Anhänger der liberal – konservativen Partei.

„90% der Kreter wollten die Demokratie!“, entrüstete er sich.

Michalis entgegnete ihm nur ruhig: „Es bleibt doch jedem Menschen selber überlassen welche politische Meinung er vertritt.“

Vassilios schüttelte verständnislos den Kopf, eine seiner Lieblingsgesten.

Davon provoziert erwiderte Eftychia nur noch:„ Vassilios, es gibt hier nicht nur deine Nea Demokratia. Wir haben auch die PASOK, die KKE, die Grünen. Papandreou steht auf unserer Seite, auf der Seite der Armen und er hat Nationalbewusstsein!“

Auf Kreta war die Mehrheit der Bevölkerung, weit mehr als auf dem Festland, damals politisch links orientiert. Die sozialistisch orientierte sozialdemokratische Partei PASOK hatte hier besonders viele Anhänger und Eftychia war einer von ihnen. Vassilios gab auf. Gegen Eftychia kam ohnehin niemand an.

Helle Sonnenstrahlen, die durch die kleinen Fenster strahlten, malten Muster auf die weiße Tischdecke.

In zwei Wochen war die Gerichtsverhandlung.

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